— Kapitel 4 —

Friedlich lag Jody in ihrem Zelt. Eingemummelt in den Schlafsack hatte sie es sich auf dem Moos gemütlich gemacht. Schlief tief und fest. Ihre Träume kreisten um die Tiere des Waldes, um die Pflanzen, die Natur – immer seltener holten sie Bilder der Vergangenheit ein. Sie war froh. Ja, bald hatte sie das alte Leben hinter sich gelassen. In absehbarer zeit würde sie wieder arbeiten. Voller Elan. Mit einem strahlenden Gesicht. Irgendwie, irgendwo.
Doch schlagartig schreckte sie hoch. Urplötzlich saß sie kerzengrade in ihrer Unterkunft. War hellwach. Die Augen weit geöffnet. Laut atmend. Das Herz schlagen hörend. In der Dunkelheit hörte man ihren Atem… und wieder ein Kreischen. Ein Schrei. Dieses Flehen – diese Hoffnung auf Erlösung – auf den Tod! Nein, es war doch kein Traum gewesen. Tausend Gedanken schossen Jody durch den Kopf. Wie im Trance zwickte sie sich in den Arm. Spürte den Schmerz. Kann man im Traum so was fühlen. Sie verpasste sich leichte Schläge auf die Wangen. Ja, auch diese Berührungen konnte sie fühlen. Sie war wach. Die Schreie waren da – waren echt. Sind echt! Nein, das ist nicht möglich. Hoffend, dass dies alles nur ein schlechter Traum sei – ein Alptraum, nahm sie die Wasserflasche, die direkt neben ihr stand und schüttete sich einen Teil über den Kopf – und war nass. Sie spürte, wie die Wassertropfen an ihr hinunterwanderten. Shit, es ist real. Ich bin hier. Ich bin wach. Sie atmete tief durch. Und wieder zogen sich ihre Schultern zusammen. Ein Schrei erfüllte den Wald mit Pein. Man konnte den Schmerz förmlich spüren. Wollte hinrennen, um zu helfen. Wollte der Person helfen. Ihn von den Qualen befreien. Und wenn man ihn töten müsste. Hauptsache Ruhe!
Am ganzen Körper zitternd, schloss Jody noch mal die Augen. Kräftig saugte sie die Luft ein, als wenn sie dadurch an Mut dazugewinnen würde. Und es half ein bisschen. Sie blieb ruhig. Ließ sich von den Schreien nicht einschüchtern. So kann es nicht weitergehen. Nein, ich muss die Ursache dieser Geräusche herausfinden. Muss wissen, wer solche Todesängste aussteht. Und warum. Wer jemandem so was antut. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Zeltes. Es war duster. Stockdunkel. Niemand war zu sehen. Ihr Blick musterte den Wald, als würde er etwas suchen. Den Mann von gestern. Sie war gewillt, ihn noch mal zu sehen, wenn es ihn wirklich geben sollte, damit sie sich versichern konnte, ob er wirklich der war, für den sie ihn hielt. Oder ob sie sich nur geirrt hatte, dass ihre Augen ihr einen Streich gespielt hatten. Denn den, den sie erkannt haben wollte, konnte doch nicht wirklich vor ihr stehen. Aber sie erblickte niemanden.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es noch einige Stunden dauern würde, bis die Sonne aufgehen würde. Also noch genügend Zeit, bis die Schreie verstummen würden. Blitzschnell entschied sie sich, ihr Lager aufzugeben, um den Stimmen zu folgen. Was schwierig werden würde, denn sie kamen von überall her. Doch es würde schon irgendwie klappen. Na klar, wird schon.
Mit ein paar geschickten Handgriffen hatte sie ihre Sachen verstaut. Mit vollgepacktem Rucksack stand sie nun mitten in der Dunkelheit. Irgendwo in einem Wald, in dem sich schreckliche Schreie ihren Weg durch das Dickicht bahnten. Begleitet von einem erschauernden Lachen, das fast noch fürchterlicher klang, als alle Schreie zusammen. Es war ein Gelächter eines Menschen, der sich an den Qualen seiner Patienten ergötzte. Der es liebte sie leiden zu sehen. Der sie quälte. Bis kurz vor den Tod, um sie dann zu pflegen, um am nächsten Tag wieder von vorne zu beginnen. Ein Lachen eines kranken Menschen. Eines Mannes, der auf sein nächstes Opfer wartete…
Doch auch diese Stimme konnte sie nicht von ihrem Ansinnen abbringen. Es beflügelte sie eher noch, sich auf den weg zu machen. Zweifel wurden unterdrückt. Angst durfte nicht erst aufkommen. Das würde alles viel zu schwierig machen. Dabei war es doch schon schwierig genug. Denn welche Richtung sollte sie einschlagen. Wohin gehen? Im Prinzip konnte sie überall suchen. Sie drehte sich einige Male im Kreis. Musterte jeden Zentimeter, als sei sie auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Einem Zeichen. Irgendetwas, was ihr weiterhelfen könnte. Doch es begann sich alles einfach nur zu drehen. Es wurde schwarz vor ihren Augen. Die Welt stand nicht mehr still. Sie blieb ruhig stehen und atmete nochmals tief durch, da öffnete sich vor ihr eine Gasse. Wie von Geisterhand wurde an einer Stelle das Geäst immer lichter. Baumstämme und Äste verschwanden. Zweigen schienen zu ihr herüber zu winken. Ihr sagen zu wollen, hier geht’s lang, hier bist du richtig. Du findest dein Ziel, wenn du diesem Weg folgst. Eine übernatürliche Kraft zog sie in ihren Bann. Ohne groß nachzudenken, setzte Jody einen Fuß vor den anderen und machte sich auf den Weg. Sie war dankbar für diese Hilfe – dieses Zeichen, egal von wem es auch gekommen war…
Zielstrebig und alle Kräfte auf diese eine Sache fixiert bahnte sie sich ihren Weg durch die Finsternis, die immer noch von den Schreien ausgefüllt wurde. Und immer noch zuckte sie bei jedem Lachen zusammen. Kalter Scheuer liefen in aller Regelmäßigkeit über ihren Rücken. Doch die schreckten sie nicht ab, aufzugeben und sich aus dem Staub zu machen, sie bekräftigten sie immer wieder weiterzugehen. Sie wollte der Ursache auf den Grund gehen. Und sie sollte der Sache auf den Grund gehen. Dafür hatte man gesorgt…
Deshalb kämpfte sie sich durch das Dickicht. Und es war doch schwerer, als sie es im ersten Moment angenommen hatte. Denn aus dem Pfad der Wahrheitsfindung war eine Sackgasse geworden. Die Äste, die sich doch grade erst aufgelöst hatten, stellten sich ihr jetzt wieder in den Weg. Sie schienen ihr in den Weg versperren zu wollen, um sie zu warnen, doch gleichzeitig wiesen sie ihr immer wieder den rechten Weg. Zu keinem Augenblick kamen bei Jody Zweifel darüber auf, ob sie das Richtige machen würde, ob sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Die Natur – und irgendeine Kraft waren doch auf ihrer Seite – begleiteten sie und würden sie schon warnen, wenn sie die falsche Richtung einschlagen würde. Naja, zumindest wird sie ihr Ziel erreichen. Dass sie dabei allerdings große Umwege gehen würde, war geplant und konnte sie ja nicht wissen. Sie sollte sich erst mal selbst quälen… So schien der Wald für Jody kein Ende zu nehmen. Sie ging und ging. Die Zeit verging. Aber das Bild veränderte sich nicht. Nur Bäume. Immer die selben. Immer wieder die gleichen. Zum Verzweifeln. Wie ein Labyrinth ohne Ausweg. Doch Jody gab nicht auf. Denn immer noch waren da die Schreie. Das war Antrieb genug. Ein Schritt nach dem anderen. Bloß nicht aufhören. Es müsste doch bald geschafft sein. Kann ja nicht mehr weit sein. Ich habs bald. Nicht mehr lange. Doch die Stimmen wurden einfach nicht lauter. In gleichbleibender Stärke hallten sie durch die Nacht. Keinen Tick lauter. Das ist doch eigentlich gar nicht möglich. Ich gehe und gehe und komme nicht voran. Hoffentlich beweg ich mich nicht im Kreis. Jody blieb stehen. Erst jetzt, da sie mal kurz rastete, merkte sie, wie ihre Füße schmerzten. Schon seit Stunden war sie jetzt unterwegs. Musste immer wieder dicke Äste aus dem Weg räumen, stolperte einige Male über Stämme, die im Dunkeln auf dem Boden lagen und ab und zu knallte ihr ein Ast ins Gesicht. Doch diese Schmerzen wurden unterdrückt. Mussten unterdrückt werden, wenn sie an ihr Ziel kommen wollte. Nun stand sie da, streichelte ihre Oberschenkel, als würde es helfen und horchte in die Dunkelheit hinein. Doch auch jetzt konnte sie die Richtung nicht feststellen, aus der die Geräusche der Folter kamen. Es war einfach nicht möglich. Denn sie waren überall und nirgends. Sie hatten sie umhüllt. Eingekesselt. Gefangen!
So, ich muss weiter, bin doch gleich da. Doch sie war müde und geschafft. Da öffnete sich wieder eine Gasse für sie und eine leise Stimme flüsterte in ihr Ohr. „Komm, du schaffst es. Jetzt bist du schon so weit gekommen. Gib nicht auf. Es ist nicht mehr weit.“ „Ja, aber lohnen sich denn die ganzen Qualen“ hörte sie ihre Stimme sagen. Doch es kam keine Antwort. Jody atmete tief durch. Sammelte ihr letzten Kräfte. Es ist nicht mehr weit. Und wieder setzte sie sich in Bewegung. Doch nur sehr langsam kam sie voran. Entkräftet schlich sie durch den Wald. Kleine Tränen kullerten ihre Wangen herunter. Ich kann nicht mehr, aber ich muss. So ging sie noch ein Weilchen. Ein paar Minuten, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkamen. Den Kopf gesenkt folgte sie nur noch der unsichtbaren Hand, die sie durch den Wald führte. Doch auf einmal ließ diese Hand Jody los. Sie merkte sofort, dass etwas geschehen war. Sie hob ihren Kopf und schaute sich um. Doch noch immer sah sie nur Bäume, die sich vor ihr aufrichteten. Sie drehte ihren Kopf einige Male in alle Richtungen, doch sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Dann fuhr ein Lichtstrahl über ihr Gesicht. Die Sonne begrüßte den neuen Tag. Und erst jetzt bemerkte Jody, dass es auch ganz still um sie geworden war. Die Schreie waren verstummt. Auch das Lachen war nicht mehr zu vernehmen. Nichts. Absolute Ruhe. Der Tag erwacht – die Geräusche verstummen.
Jody sackte zusammen. Plötzlich saß sie auf dem feuchten Waldboden. Ihr Kopf sackte weiter nach unten. Sie atmete schwer. Es ist doch nicht mehr weit. Nur ein paar Stunden noch. Nein, Jody, nur noch ein paar Minuten. Du bist fast da…

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