Der Hase am Fenster

Ach, wie süß hallte es regelmäßig in sein Ohr. Er hatte sein modernes Büro im Erdgeschoss mitten in einem Wohnviertel bezogen. Vor seinem Fenster zog sich ein kräftiger Grünzug in die Länge. Es war still, erholsam und doch kreativitätsfördernd. Doch immer wieder und immer öfter blieben die Passanten stehen. Doch nicht, wie er anfangs hoffte, um einen Blick in sein Büro und damit auf seine Dienstleistungen zu werfen, sondern um ihm den Rücken zu zu kehren. Zu verweilen. Durchzuatmen. Und denn Hasen zuzuschauen. Denn die sonnten sich täglich auf der Wiese, hoppelten und verfolgten einen entspannten Tagesablauf.

Auch er hatte es als schön, erholsam und berauschend empfunden, in kleinen Arbeitspausen nach draußen zu gehen. Während er einen kräftigen Zug aus seiner Zigarette nahm und locker am Gewölbe gelehnt dastand, blickt er in das kräftige grün. Beobachtete die Hasen, die sich mitten in der Stadt breit gemacht haben. Das ist normal hier in Hamburg, hatte er gehört. Sie gehören dazu. Das ist ja das schöne an der Hansestadt. Ein Stückchen Natur. Mitten in der Großstadt.

Nur hatten sie sich zuletzt nicht enorm ausgebreitet?

War die Paarungszeit einmal mehr an ihm vorbei gegangen. Hatte er den Frühlingsduft nicht vernommen, während die Hasen ihren Namen als Rammler alle Ehre machten? Waren es nicht unglaublich viele geworden? Anfangs, so dachte er, waren es nur vier oder fünf, die gemütlich über die Wiese hoppelte. Mittlerweile mussten es schon 50 sein, die sich draußen vergnügten. Was das nicht ein wenig komisch?

Er verwarf den Gedanken. Wie wahrscheinlich alle anderen Passanten, die regelmäßig stehen blieben. Er erfreute sich des Anblicks und hörte die Rentner frohlocken, dass das ein Vorteil dieses Stadtteils sei. Selbst die Hasen hätten die ungemeine Wohnqualität erkannt.

Nur einer konnte sich an dem Hasenschauspiel nicht erfreuen. Ein alter Mann schwang warnend seinen Stock. Er hatte ihn schon öfters vorbeikommen sehen. Der Rentern sah das Ungemach kommen. Und sobald jemand in seiner Nähe von diesen possierlichen Tieren sprach, holte er aus. Er packte seine Geschichte aus. Schon zu seiner Jugend hatten sich die Hasen in seinem Viertel breit gemacht und später die Macht an sich gerissen. Sie hatten das Viertel eingenommen, wurden aggressiv und haben ganze Straßenzüge verwahrlosen lassen. Die Menschenflucht sei enorm gewesen. Hasen, so schrie er immer wieder, waren alles andere als liebe Tier.

Er hatte ihm anfangs noch gespannt zugehört, gelächelt. Später den Kopf geschüttelt und war schlussendlich genervt. Trotz brütender Hitze im Büro schloss er das große Fenster, wenn der Rentner wieder zu seiner Hasentirade ausholte. Was für ein armer, alter, seniler Mann. Wieso werden Menschen so verbittert, wenn sie alt und allein sind, hatte er sich gefragt. Wieso erfreuen sie sich nicht an den schönen Dingen.

Vor wenigen Minuten, war der alte Mann erneut in Fahrt gekommen. Er hatte ausnahmsweise wieder gelauscht und da gerade keine Arbeit auf dem Schreibtisch lag, fragte er Herrn Google. Er erstarrte. Bei Wikipedia fand er tatsächlich einen Artikel zur bitterlichen Hasenplage Anfang des letzten Jahrhunderts. Soldaten waren damals in die Viertel marschiert und hätten die Hasen zurück getrieben. Paradox. Unwirklich. Doch schwarz auf weiß. Bilder. Verlinkungen auf bekannte Medien. Er las, vertiefte sich, sein Herz raste, bis es schlussendlich stehen blieb. Denn nachdem er den letzten Absatz gelesen hatte und aufschaute, blickte ein Hase mit breitem Grinsen durch sein riesiges Bürofenster.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert